Interview mit Christine Regitz, Vice President, Global Head of SAP Women in Tech
Seit fast drei Jahrzehnten ist Christine Regitz in Diensten der SAP SE. „Mein Herz schlägt für die Softwareentwicklung“, sagt sie. Nach dem Studium der Wirtschaftswissenschaften und der Physik an der Universität des Saarlandes in Saarbrücken und der Università degli Studi im italienischen Bari arbeitete sie zunächst knapp zwei Jahre als Geschäftsprozessberaterin für Service Industries bei der IDS Prof. Scheer GmbH. Bei der SAP war Christine Regitz in unterschiedlichen Funktionen tätig. Seit 2015 gehört sie dem Aufsichtsrat des Unternehmens an, seit 2020 hat sie die Position als Global Head of SAP Women in Tech inne.
D&S: Frau Regitz, Sie vereinen zwei Themen, die die Arbeitswelt verändern: Digitalisierung und Diversität. Was bedeutet Letzteres für Sie?
Regitz: Die Diversität hat unglaublich viele Facetten. Diversität ist viel breiter, als in der öffentlichen Diskussion wahrgenommen, wo sie häufig gleichgesetzt wird mit Themen wie Gender oder LGBTQ+. Mein Credo ist, dass Diversität auch die Hintergründe beleuchtet, unterschiedliche Lebensläufe und Ausbildungswege. Innovation in Form neuer Ideen und neuer Produkte entsteht, wenn Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen zusammenkommen und dieses Spannungsfeld aushalten. Wir haben bei „SAP Women in Tech“ bei den Frauen angefangen, weil sie Perspektiven und Problemstellungen mitbringen, die Männer häufig – gar nicht mal aus bösem Willen – nicht auf dem Schirm haben. Ich denke da an Themen wie Kinder und Pflegearbeit. Bei den Frauen, die ja die Mehrheit der Menschheit bilden, sehen wir die größten strukturellen Baustellen. Frauen sind für mich die Eisbrecher für andere Dimensionen der Diversität wie People of Color oder LGBTQI.
D&S: Sie sprechen von strukturellen Baustellen. Wie bewerten Sie die Entwicklung bei der Gleichberechtigung von Frauen in den vergangenen Jahren?
Regitz: Wir haben große Schritte getan, seitdem sich der damalige Telekom Personalvorstand Thomas Sattelberger als erster Vorstand eines DAX-Unternehmens überhaupt das Thema Frauenquote geschnappt und es dadurch auf die politische Agenda gebracht hat. Dort war es davor nicht, heute hat es sich durchweg in Politik und Gesellschaft etabliert. Es gibt die gesetzliche Quote bei den Aufsichtsräten, es gibt Institutionen wie die AllBright Stiftung in Berlin, die jedes Jahr einen wunderschönen Report mit einer Prise Humor herausbringt und zeigt, wie die Unternehmen in Deutschland dastehen. Wesentliche strukturelle Probleme sind aber noch ungeklärt, etwa beim Steuerrecht, Stichwort Ehegattensplitting und Sozialversicherung, Stichwort Altersarmut, von der viele Frauen, die in den nächsten Jahren in Rente gehen, betroffen sein werden, weil sich bis heute viele Frauen zu wenig Gedanken darüber machen, was im Alter passiert, wenn sie in Teilzeit oder gar nicht gearbeitet haben oder wegen der Kinder lange Auszeiten hatten und wenn der Mann, der immer gut verdient hat, aus unterschiedlichen Gründen nicht mehr da ist. Hinzu kommt ein kulturelles Thema: Den alten Begriff der Rabenmutter gibt es nur bei uns, es existiert kein analoger Terminus in anderen Ländern. Das alles zeigt, dass wir nach wie vor Frauen ermutigen müssen aufzustehen und gleiche Rechte einzufordern.
D&S: Wie haben Corona und Homeoffice die Arbeitswelt von SAP verändert?
Regitz: Das Homeoffice war bei uns geübte und gelebte Praxis. Wir nennen das Flex Work. Ich habe schon vor Jahren einen Vortrag über die Zukunft der Arbeitswelt gehalten, da habe ich meinen Rucksack mit Laptop, iPhone und Kopfhörern präsentiert und gesagt: Ich habe mein Büro immer dabei. In der Technologiebranche ist das Gang und Gäbe. Insofern war die Pandemie für andere Branchen sicher einschneidender.
D&S: Wenn Sie die Arbeitswelt von morgen frei gestalten könnten, wie sähe die aus?
Regitz: Für die Art von Wissensarbeit, die ich mache, kann ich sagen: Menschen sind mehr als ihre Stimme und ihr Bild, deswegen ist es ganz, ganz essentiell, dass sie in einer inspirierenden Umgebung zusammenkommen und interagieren – und sei es nur für ein Gespräch bei einem Kaffee, während dem dann ein Satz fällt, der etwas Neues entstehen lässt. Gleichzeitig muss es die Möglichkeit geben, dass die Menschen zu Hause sein können, um bestimmte Dinge abzuarbeiten. Die Arbeitswelt von morgen berücksichtigt nach meinem Wunsch dieses Hybride.
D&S: Wenn wir Sie richtig verstehen, heißt das: Um die Transformation in Gang zu bringen, braucht es den Austausch, um sie umzusetzen die Ruhe. Doch wie geht man mit Gegenwind von Menschen um, die sich aus welchen Gründen auch immer gegen strukturelle Veränderungen sträuben?
Regitz: Es liegt in der menschlichen Natur, dass Veränderungen starke Beharrungskräfte auslösen. Wir müssen über diese Ängste reden, ohne sie lächerlich zu machen oder zu diskreditieren. Man darf unterschiedliche Meinungen und Wünsche haben, aber man muss sie ausdiskutieren und versuchen, zusammenzukommen.
D&S: Können Sie das an einem Beispiel festmachen?
Regitz: Ein schönes Beispiel ist das Arbeitszeiterfassungsgesetz, das wir gerade politisch auf der Agenda haben. Wie messen Wissensarbeiter, bei denen alles im Kopf geschieht, ihre Arbeitszeit? Wenn ich mir über ein neues Konzept Gedanken mache, nehme ich die Gedanken aus dem Büro mit nach Hause und reflektiere morgens unter der Dusche oder auf dem Fahrrad über sie. Auch das ist arbeiten, ein anderes Arbeiten als in Fabriken, in denen es um Gleit- und Kernzeiten und um Anwesenheit geht. Das sieht die Politik nicht, sie denkt noch immer in einer Welt, in der es um tatsächliche Zeiterfassung ging. Hinzu kommt das Arbeitsschutzgesetz, nach dem wir nur zehn Stunden am Tag arbeiten dürfen und dann mindestens eine Pause von einer Stunde machen müssen. Auch das betrifft eine Arbeitswelt, in der Arbeitnehmer stark körperlich belastet sind und Pausen brauchen; diese Menschen müssen wir per Gesetz schützen. Aber wenn ich im Flow bin, wäre es eine Katastrophe für mich, fürs Unternehmen und den Kreativprozess, wenn ich eine Pause machen müsste. Diese Beispiele zeigen, wie wichtig es ist, die Auswirkungen der Transformation und ihre speziellen Rahmenbedingungen zu berücksichtigen. Tun wir das nicht, entstehen Ängste und aus Ängsten entsteht Abwehr und dann müssen wir aufpassen, dass wir nicht feststecken und den Innovationsstandort Deutschland schwächen.
D&S: Man hört bei der Digitalisierung immer wieder die Klage, es ginge alles zu schnell, man komme den Entwicklungen gar nicht mehr hinterher. Führt das nicht auch zu Ängsten und zu Abwehr? Müssen wir einen Schritt zurück machen?
Regitz: Nein. Wir können den Prozess nicht aufhalten oder die Geschwindigkeit drosseln und wenn wir es versuchen, werden andere Nationen uns überholen, die sich viel positiver mit der Digitalisierung auseinandersetzen. Schauen Sie sich an, was mit ChatGPT passiert. Plötzlich ist dieser Chatbot in aller Munde; wir müssen uns mit ihm beschäftigen. Ich glaube, wir haben es hier mit einem relativ deutschen Problem zu tun. Wir reden immer sehr viel über die Technologiefolgenabschätzung, dabei müssten wir uns mehr über die Technologiechancenabschätzung unterhalten. Natürlich müssen wir das eine tun, ohne das andere zu lassen. Natürlich hat ChatGPT Auswirkungen zum Beispiel auf die Lehre und den Unterricht. Aber der Chatbot bietet auch Chancen. Wenn wir die Menschen mitnehmen wollen, müssen wir sie dort abholen, wo sie sind, und mit ihnen über Folgen und Chancen der Digitalisierung gleichermaßen sprechen.
D&S: Glauben Sie, Sie dringen bei der jüngeren Generation, für die die rasante Entwicklung normaler ist als für die ältere, eher durch?
Regitz: Ich glaube nicht, dass das eine Generationenfrage ist, eher eine Typusfrage. Ich sehe durchaus Menschen, die älter sind und trotzdem unheimlich neugierig, die etwas ausprobieren wollen. Auf der gleichen Seite sehe ich junge Menschen, die relativ naiv und unreflektiert Tools nutzen, ohne sich damit auseinanderzusetzen, was es etwa bedeutet, alle Fotos auf Instagram zu posten.
D&S: ist das in dem Fall eine Frage der Bildung? Muss die Digitalisierung stärker in die Schulen?
Regitz: Definitiv, die Digitalisierung ist in den Schulen viel zu wenig abgebildet, es gibt keinen flächendeckenden Informatikunterricht. Und wenn ich von Informatikunterricht spreche, meine ich im Sinne des interdisziplinär entstandenen Dagstuhl-Dreiecks drei Ebenen. Auf der ersten geht es um das Verständnis der technologischen Grundlagen, darum ein wenig programmieren zu lernen und zu verstehen, was ein Algorithmus ist. Auf der zweiten geht es um die Anwendungskompetenz. Was benutze ich wann und wie? Und die dritte Ebene betrifft die Folgen des Ganzen. Die Bedeutung des Themas sickert so langsam in die Bildungspolitik rein, aber viel zu langsam. Das müssen wir unbedingt forcieren, weil wir ansonsten in einer digitalen Sorglosigkeit enden, in der wir im Endeffekt als pure Nutzer übrigbleiben, aber nicht mehr im Driver Seat sitzen. Dann werden wir überrollt.
D&S: Ein größerer Fokus auf den Informatikunterricht könnte ja ein Ansatz sein, mehr Mädchen für einen Job in der IT- und Tech-Branche zu begeistern. Was war Ihre persönliche Inspirationsquelle?
Regitz: Es gab für mich nicht die eine Inspiration. Ich bin eher ein Mensch, der gerne viele Optionen auskundschaftet. Ich hätte mir auch vorstellen können, eine Schreinerlehre zu machen. Ich war niemand, der schon als Kind weiß, was er werden will und dann genau dieses Ziel verfolgt. Aber ich war schon immer neugierig und wollte wissen, wie die Dinge funktionieren und ich war gut in Mathe, Physik und Chemie haben mich interessiert. Ich habe Mathe- und Physik-Leistungskurs belegt und einen Zusatzkurs Informatik gemacht und fand das total spannend.
D&S: Wie kriegen wir heute mehr Frauen in die Jobs?
Regitz: Die Riesenaufgabe ist es, Berufsbilder zu transportieren. Da hat sich wenig getan verglichen mit der Zeit, als ich in der Berufsorientierungsphase war. Ich bin damals in die Studienberatung an die Uni gegangen und wollte Mathe studieren und habe den Berater gefragt, was ich mit einem Mathe-Abschluss machen kann, weil mir das nicht klar war. Er meinte, ich könnte natürlich im Akademischen bleiben oder zu einer Versicherung gehen, die bräuchten Mathematiker, um Sterbetafeln oder Eintrittswahrscheinlichkeiten von irgendwelchen Unfällen auszurechnen. Da ist dann bei mir der Rollladen gefallen. Ich habe ihm geantwortet: Okay, dann sagen Sie mir doch jetzt bitte mal ein Fach, in dem viel Mathematik drin ist und ich hinterher quasi alles Mögliche machen kann.
D&S: So sind Sie in den Wirtschaftswissenschaften gelandet.
Regitz: Genau. Da gab es einen quantitativen Zweig, den ich mit links gemacht habe. Der Punkt ist, dass ganz viele junge Menschen auch heute nicht wissen, was sie hinterher im Beruf erwartet und erst recht nicht in der IT-Branche. Die Schulen können das nicht vermitteln, weil die Lehrerinnen und Lehrer fehlen, die Eltern wissen es auch nicht. Ich sitze nicht den ganzen Tag im Keller vor meinem Computer und programmiere und habe eine olle Cola und eine Pizza neben mir. Ich wäre auch eine schlechte Programmiererin, ich habe meine Stärken eher als Softwaretesterin, weil ich alles einmal ausprobiere und so Fehler finde. Die Kernkompetenzen, die Technologieunternehmen aber heute verlangen, sind Team- und Kommunikationsfähigkeit und die bringen viele Frauen mit. Natürlich braucht es ein solides technisches Verständnis, aber mein Tag bei der SAP besteht im Wesentlichen daraus, mit Menschen zu interagieren. Diesen Berufsalltag müssen wir jungen Frauen klarmachen. Hinzu kommt zweierlei: Erstens gibt es heute so schöne Fächer wie Bioinformatik, Wirtschaftsinformatik, Umweltinformatik, die total interessant sind für Frauen, die sich für Umwelt- oder Nachhaltigkeitsfragen interessieren. Und zweitens ist das Arbeitsumfeld bei uns quasi perfekt. Stichwort: Flex Work und individuelle Arbeitsmodelle, was ja im Übrigen auch für Männer ein Argument sein sollte.
D&S: Die jüngere Generation ist teilweise als faul verschrien, teilweise als sehr purpose-orientiert. Wie nehmen Sie das wahr?
Regitz: Ich muss es noch mal vehement sagen: Ich nehme keinen Generationenkonflikt wahr und wir sollten auch keinen schüren. Junge Menschen sind nicht per se fauler oder purpose-orientierter als ältere. Ich habe die Gründung der grünen Partei hautnah miterlebt, meine Generation hat diesen Purpose genauso. Und ich erlebe sehr hungrige junge Kolleginnen und Kollegen, die Karriere machen wollen. Manchmal sind die ein bisschen ungeduldiger als wir es waren. Und das ist vielleicht das einzige Generationenthema: Ich komme aus einer langsameren Zeit. Als ich Anfang der 90er-Jahre zu arbeiten begann, saß ich mit meinem Chef in einem Zimmer und wir haben uns ein Telefon mit Kabel geteilt. Ich hatte das Glück, einen eigenen Computer zu haben und eine eigene E-Mail-Adresse. Das war ein wahnsinniger Luxus, da kamen am Tag drei E-Mails rein. Das war eine Zeit, in der vieles, was heute möglich ist, gar nicht möglich war. Da hat sich die Welt der Wissensarbeit drastisch geändert.
D&S: Wir kommen zur Abschlussfrage, die sich auf zwei Fragen verteilt: Was ist aus Ihrer Sicht das deutsche und was das europäische Erfolgsrezept?
Regitz: Das deutsche Erfolgsrezept ist für mich das des alten Diplom-Ingenieurs mit seinem hohen Qualitätsanspruchs. Das unterscheidet uns von den Amerikanern, die einfach mal ausprobieren. Diese Kultur haben wir nicht. Wir wollen etwas perfekt machen, das steckt uns in den Genen. Das hat manchmal auch einen negativen Effekt, trotzdem ist es insgesamt eine Erfolgsgeschichte und wir sollten das aus meiner Sicht weiter fördern.
D&S: Und das europäische Erfolgsrezept?
Regitz: Dass wir unsere Unterschiede akzeptieren und gleichzeitig ein eigenes Wertesystem teilen. Unser Datenschutzmodell ist ein gutes Beispiel. Es wird immer gesagt, der Datenschutz verhindert alles, aber das stimmt nicht. Das ist ein Erfolgsmodell, das sich andere Länder gucken, weil es auf zwei Prinzipien beruht. Erstens: Wir haben Dinge, die geschützt werden müssen. Und zweitens: Nicht alles, was möglich ist, wird auch getan. Das ist ein europäischer Gedanke und den sollten wir stärker vermarkten. Unser europäisches Erfolgsrezept basiert auf unserem Wertesystem.