Die Liebe zur Musik entdeckte Frank Stahmer bereits mit fünf Jahren durch das Violoncello-Spiel und machte sie schließlich zum Beruf. Der gebürtige Hamburger, der Betriebswirtschaftslehre und Marketing studierte und zunächst in seiner Heimatstadt im Bereich Medien und digitale Werbung tätig war, ging zum Post-Graduate-Stadium des International Arts Management nach Salzburg und bereitete in Wien für den Österreichischen Komponistenbund und das Mozartjahr 2006 den European Composers Congress vor. Als Inhaber der Agentur MissionCulture widmet er sich der Kommunikation und Strategieberatung für Musik und Kultur. 2019 gründete er gemeinsam mit Lorenz Kazda und Heinrich Schläfer die LiMES – Immersive Solutions GmbH in Wien, deren Geschäftsführer er ist.
Lorenz Kazda, bei LiMES verantwortlich für die Bereiche Finanzen und Business Development, studierte Rechnungswesen und Finanzen an der Universität St. Gallen und besuchte zudem die renommierte Wharton School der University of Pennsylvania. Für die Unternehmensberatung Kearney beriet er drei Jahre lang in Peking und ein Jahr lang in Zürich Kunden in Strategie-, Wachstums-, und Transformationsprojekten. Später arbeitete er als CFO für die venturetec mechatronics GmbH und begleitete das Unternehmen durch eine Restrukturierung zu einem Nischenhersteller für die Luft- und Raumfahrtindustrie und die Medizintechnik.
D&S: Herr Stahmer, LiMES bedeutet einerseits Live Immersive Event Spaces, bezeichnet andererseits aber auch den Grenzwall des Römisches Reichs. Ist diese Zweideutigkeit gewollt?
Stahmer: Ja, wir fanden diese Zweideutigkeit ebenso spannend wie passend. Der römische Limes ist ja nicht nur ein Begrenzungskonstrukt, sondern steht im Lateinischen auch für den Pfad, die Richtung, also für ein neues Ziel. Wir haben uns für diese Abkürzung im Firmenamen entschieden, weil wir die technischen und baulichen Begrenzungen des Raumes für Live-Events sprengen wollen. Das ist unser Ziel, unsere Mission.
D&S: Warum ist das nötig?
Stahmer: Traditionelle Veranstaltungsräume sind meist für singuläre Zwecke entwickelt worden, ob klassische Theaterräume, Konzerthäuser oder Fußballarenen. Sobald du in diesen Räumen andere Dinge spielen willst, wird es schwierig. Ein Beispiel wäre die Elbphilharmonie in Hamburg, deren Akustik für Symphonieorchester großartig ist, für Solo Recitals oder ungewöhnlich Formate aber nur begrenzt geeignet. Multifunktions- oder Mehrzweckhallen ermöglichen zwar eine deutlich höhere Flexibilität, bleiben aber trotzdem Black Boxes, in die du jedes Mal mit viel Aufwand spezielle Technik hineinbringen musst und weiterhin mit vielen Unzulänglichkeiten leben wirst. Sobald du aber modernste Medientechnologien für Visuals und Sounds auf gleichwertiger Qualitätsstufe zusammenbringen willst, musst du bisher viele leidvolle Kompromisse eingehen. Vereinfacht betrachtet: Wenn du riesige LED-Walls aufbaust, aber gleichzeitig eine akustische Optimierung des Raumes anstrebst, wird jeder Akustiker sagen: „Um Himmels Willen!“. Wir wollen mit LiMES, dass sich jeder Veranstaltungsraum 360 Grad visuell wie auch akustisch variabel auf höchstem Niveau bespielen lässt – erstens, um ihn wirtschaftlich intensiver betreiben zu können, da in einem solchen Raum alle modernen Event-Formate optimal funktionieren. Und zweitens, um neue Medientechnologien und -erfahrungen wie virtuelle und gemischte Realitäten auch im Live-Kontext zu ermöglichen. Stichwort: Immersion. Damit kann die Live-Unterhaltung – von Hochkultur bis zum kommerziellen Event – ganz neue Richtungen einschlagen.
D&S: Welche Möglichkeiten Immersion bietet, sieht man unter anderem an der neuen ABBA-Konzerthalle in London, in der die Bandmitglieder als digital verjüngte virtuelle Figuren auf der Bühne stehen.
Stahmer: Exakt. Wir haben uns ABBA Voyage angeschaut und müssen sagen: Ob man nun Fan ist oder nicht, das ist eine wirklich gelungene Synergie und eindrucksvolle Symbiose aus Live-Event und neuesten Medientechnologien. Aber auch im E-Gaming ist Immersion ja inzwischen schon fast gang und gäbe. Jetzt fehlen nur noch die richtigen Räume für diese neue medientechnologisch aufgeladene Unterhaltungsform, in denen du eigentlich nur auf einen Knopf drücken musst und der Raum klingt plötzlich wie eine Kathedrale oder erscheint so, als stünde man in einer fantastischen Science-Fiction-Welt. Retrospektiv gesprochen: Hätte Mozart die Möglichkeit gehabt, er hätte den Raum mitkomponiert.
Als Eventgestalter oder als Künstler kannst du den Veranstaltungsraum des 21. Jahrhunderts als kreativen und vor allem dynamischen Teil der Inszenierung nutzen, als abstrakte Form oder Umgebung, deren akustische und visuelle Eigenschaften du selber definierst und wie eine Klaviatur bedienst, während Akteure und Publikum darin auf natürliche Weise interagieren und in neuartige, gemischte Realitäten und immersive Welten eintauchen können.
Ein denkbares Praxis-Beispiel hierzu: Wenn ein Autobauer in einer genau auf seine Markenwelt abgestimmte Live-Umgebung seinen neuen Elektrowagen präsentiert, brauche ich z.B. für die Keynote des Vorstandschefs zunächst eine trockene Akustik. Kommt dann das neue Auto als Hologramm in den Raum geflogen und die Fanfare spielt, muss es sofort wie im großen Symphoniekonzert klingen. Beides muss der Raum innerhalb kürzester Zeit optimal abbilden können, ohne große Umbauten.
D&S: Welche bauphysikalischen Auswirkungen hat das auf die Räume?
Stahmer: Diese Live-Räume, wie wir sie verstehen, funktionieren nicht mehr wie ein herkömmlicher Bau. Es ist ein eine baulich und medientechnologisch vereintes Instrument, welche die jederzeit steuerbare, variable Raumakustik und gleichzeitig die dynamische visuelle Erscheinung des Live-Raums ermöglicht, ohne gegeneinander zu wirken. Dafür entwickeln wir zurzeit spezielle Wandpanele und ein eigenes Tragwerksystem, um immersive Live-Räume für bis zu 3000 Menschen realisieren zu können. Das ist unsere Vision: den idealen Veranstaltungsraum für das Live-Entertainment des 21. Jahrhunderts zu schaffen – nicht als projektbezogenen Prototypen, sondern standardisiert, digital gefertigt und skalierbar. Umgesetzt nach modernsten Maßstäben. Wenn ich die Kubatur kenne, kann ich den Raum auf Knopfdruck generieren und muss nicht mehr fünf Jahre lang planen. Wir vereinen dafür die drei Komponenten Smart Building, Medientechnologie und Unterhaltung und arbeiten an der Schnittstelle zwischen Architektur, Bau und Unterhaltungsbetrieb, was insofern interessant ist, weil die Gründer von LiMES ursprünglich nicht aus dem Bau oder der Architektur, sondern aus dem Veranstaltungswesen kommen. D.h. wir haben über viele Jahre in den traditionellen Veranstaltungsräumen die Grenzen und Problemstellen kennengelernt und hatten damit genügend „Studienobjekte“, um zu planen, wie man es im 21. Jahrhundert anders machen könnte.
D&S: 3000 Menschen im Publikum sind derzeit die Grenze?
Stahmer: Die „Grenze“ ist in gewisser Weise fließend. Aber ab einer bestimmten Raumausdehnung bzw. Größe ist eine echte, volle Immersion, also das gefühlte Eintauchen in eine alternative Realität, für den Menschen immer schwieriger wahrnehmbar. In Las Vegas bauen sie gerade eine Mega-Location für über 20.000 Menschen, die aussehen wird wie eine riesige Schneekugel. Wir sind schon sehr gespannt, wie Live-Immersion darin funktionieren wird … Mit unserem Konzept denken wir eher in wirtschaftlich vernünftigeren Größenordnungen für die vielen mittleren und größeren Städte Europas mit ihren oftmals schon in die Jahre gekommenen oder bereits stark sanierungs- oder adaptierungsbedürftigen Hallen, die heute ein viel größeres Spektrum an Event-Formaten und gestiegenen Erlebnis-Ansprüchen zusammenbringen müssen. Hallen, die in Zukunft aber ein neues Städteprofil repräsentieren und mitunter auch ein ganz verändertes Publikum ansprechen müssen. Hier wollen wir mit LiMES Teil der nächsten Generation im Städtebau sein, wo auch Veranstaltungsorte hinsichtlich Inklusion, inhaltlicher Vielfalt und Umweltaspekten eine wichtige Rolle spielen. Das finden wir deutlich spannender als Mega-Locations für 5 bis 6 Weltstars.
Kazda: Tatsächlich ist uns bei unserem Startup neben dem Live-Aspekt der Gemeinschaftsaspekt sehr wichtig. Virtual Reality ist sehr spannend, aber auch in Zeiten des Metaverse und anderen Entwicklungen bleiben das gemeinsame Erleben und der kulturelle Austausch essentiell. Deswegen wollen wir diese Art der Innovation am Ort des Geschehens schaffen, deswegen nehmen wir digitale Transformation nicht rein virtuell wahr, sondern sozusagen real-virtuell. Es geht uns ums gemeinschaftliche, neuartige Live-Erleben.
D&S: Sie haben gerade schon erwähnt, dass Sie sich Gedanken um Umweltaspekte machen. Wie wird die Veranstaltungsindustrie mit Ihrer Hilfe nachhaltiger?
Stahmer: Räume, wie wir sie bauen, können – auch wenn sie sich in Größe oder Volumen unterscheiden – technisch und konzeptionell im Prinzip identisch sein. Das ermöglicht zum Beispiel vernetze Live-Veranstaltungen, die auf einem standardisierten Content basieren. So kann ein Konzert in Hamburg oder München parallel stattfinden während ein Teil der Performer an einem Ort spielt und der andere Teil remote hinzukommt, als Avatar vielleicht. Für die Zuschauer an beiden Spielorten ist es aber dieselbe Veranstaltung. Auch 360 Grad-Live-Übertragungen von einem Raum in einen weit entfernt stehenden Geschwisterraum sind denkbar. So könnten in einem LiMES-Raum, sagen wir in einem Kulturzentrum einer Mittelstadt in einer ländlichen Region, 750 Menschen ein Live-Format erleben, dass es sonst nur in viel größeren Locations in der Großstadt gäbe. In unserem LiMES-Raumkonzept lässt sich also die Show-Szenerie komplett digital für mehrere Orte entwickeln. Anstatt Aufbauten und Kulissen quer durch die Lande zu transportieren und Medientechniken individuell mit hohem Aufwand integrieren zu müssen, kann man sich in einem skalierbaren LiMES-Raum sicher sein, dass es überall in gleicher Qualität abläuft – vielleicht individuell ergänzt durch lokale Musiker oder Akteure. Auch Konferenzen lassen sich auf diese Weise über Grenzen hinweg synchronisieren, ohne komplett in die Hybridität zu gehen. Dadurch wird der Mobilitätsdruck der Audiences deutlich reduziert.
Kazda: Zudem berücksichtigt unsere Fertigungskette auch das Thema CO2-Emissionen. Wir arbeiten mit digitalen Zwillingen und modularer Bauweise. Dadurch reduziert sich der Materialverbrauch, weil wir nur die Module just in time produzieren, die für den individuellen Raum nötig sind. Jedes Modul lässt sich nach dem Leave-no-Trace-Prinzip wieder abbauen und wiederverwerten. Gerade kürzlich haben wir eine Soundwall in einem Wiener Theater ab- und im Fraunhofer Heinrich-Hertz-Institut in Berlin wiederaufgebaut. Und sollte etwa mal ein Lautsprecher oder eine andere Komponente kaputt gehen, lassen diese sich in einem sehr schlanken Prozess ohne großflächige Arbeiten ersetzen.
Stahmer: Richtig, und das ohne Funktionsverlust. Wir achten in der Entwicklung darauf, dass unsere Wandoberflächen idealerweise aus vollrecycelbaren und größtenteils auch bereits aus recyceltem Material bestehen. Und was unserer Tragwerk-System anbelangt: Ich darf nicht zu viel verraten, nur so viel: Wir kommen da in der Summe auf deutlich weniger Materialeinsatz als bei vergleichbaren Systemen und auch der Verschnitt wird wesentlich reduziert.
D&S: Sie haben LiMES 2019 gegründet, kurz vor der Pandemie, die für die Veranstaltungsbranche ein harter Schlag war. Wie sind Sie damit umgegangen und welche Chancen haben sich dadurch ergeben?
Stahmer: Klar, wir hätten alle auf Corona verzichten können. Unser Vorteil war, dass wir während der Pandemie mitten in der Entwicklungsphase steckten. Mithilfe einer Innovationsförderung der Stadt Wien konnten wir unsere immersive Medienwand in Ruhe entwickeln und damit ein Produkt, das all die jetzt aktuellen Themen wie Green Deal, Materialmangel und Energiesparen bei der Herstellung und beim Betrieb berücksichtigt. Das sind Pluspunkte, die wir nutzen wollen, auch wenn wir momentan wie alle unter dem Problem mitleiden, dass unsere Kunden dreimal schauen müssen, was finanziell möglich ist und was nicht.
D&S: Welche für Sie positiven Einflüsse hatten die vergangenen beiden Jahre auf das Live-Entertainment-Geschäft?
Stahmer: Auf der für die Medientechnologie wichtigen ISE-Messe in Barcelona sind im Frühjahr diesen Jahres Trends präsentiert worden, die wir schon vorausgesehen und in unserem Ansatz bereits berücksichtigt hatten. Wir haben mit zahlreichen Herstellern gesprochen, die sehr glücklich sind, dass wir Nahtstellen bieten können, in die sie ihre Lösung – zum Beispiel für akustische Variabilität – integrieren können. Was ebenso spürbar ist: Dadurch, dass die Menschen in den Lockdowns immer stärker an digitale Umgebungen gewöhnt wurden, wird das Live-Entertainment zunehmend medialer und immer audiovisueller. Das, was da gerade passiert, ist eine Blaupause für die ganze Branche. Viele Veranstalter und Künstlergruppen überlegen sich: Wie sieht meine Show von morgen aus und wie die Räume dafür. Wir bieten hierfür eine Lösung an.
Kazda: Die USA und Asien sind uns bei der Digitalisierung einen großen Schritt voraus. Aber die letzten zwei bis drei Jahre haben dem Digitalisierungsbewusstsein in Europa einen richtigen Schub verliehen – auch das Bewusstsein, dass wir unsere eigenen Lösungen und Systeme brauchen, um eine gewisse technologische Selbstständigkeit und Unabhängigkeit zu erreichen. Das gibt uns einen Push, weil für die Kreativwirtschaft und für Culture Tech stärkere Förderungen und neue Investmentvehikel zutage treten oder Acceleratoren in den Bereich kommen.
D&S: Trotz allem ist die Veranstaltungsbranche doch noch sehr analog unterwegs. Wie lässt sich das mit all den Themen wie VR, AR und Metaverse besser kombinieren?
Stahmer: Das Metaverse, wie es sich der Herr Zuckerberg vorstellt, ist unserer Ansicht nach noch mehr Zukunftsmusik als die Hybridität, die ja schon da ist. VR wurde ja schon 2015/16 so hoch gehypt, dass wir alle längst nur noch in die VR-Brille schauen müssten. Das tun wir aber nicht, erstens weil die Technologie noch nicht so weit ist, dass es wirklich Spaß macht und zweitens: das gemeinsame Erleben ist Teil unserer menschlichen DNA. Dass wir uns nur noch im Metaverse verschließen und unsere eigene Identität aufgeben, das wird in den nächsten Jahren nicht passieren. Aber wenn die neuen Lösungen, die wir in den vergangenen Jahren kennengelernt haben, integrativer werden, so dass die Technik unsichtbar wird und der Inhalt mit allen Sinnen ungestört wahrgenommen werden und voll zur Geltung kommen kann, stechen die Mehrwerte raus. Meine Prognose für die Live-Entertainment-Branche ist, dass die Zuschauer zurückkommen werden, aber sie werden sich genau überlegen, zu welchem Event sie hingehen und zu welchem nicht. Die Qualität des Erlebnisses wird in Zukunft noch wichtiger sein wird als die Quantität der Veranstaltungsangebote.
Kazda: Wir wollen die Veranstaltungsbranche herausfordern. Wir wollen den Anstoß dazu liefern, das Konzerterlebnis neu zu denken – mit dem Raum als Instrument. Mit unserem Ansatz ist er nicht mehr begrenzt im Aussehen und in der Akustik. Wir stellen das auf den Kopf. Und sagen der Branche: Denkt größer und gewagter, was man mit so einem dynamischen Raum alles machen könnte
D&S: Ist das Ihr Wunsch an die Veranstaltungsbranche der Zukunft?
Kazda: Zum einen, ja. Zum anderen möchten wir die gesellschaftliche Komponente aufrechterhalten. Wir wollen, dass wir uns weiterhin gern in physikalischen Räumen treffen und gemeinsam etwas erleben. Weil das wertvoll und absolut menschlich ist.
Stahmer: Wenn ich noch einen Wunsch ergänzen darf: Nach unserer Beobachtung denkt die Event-Branche viel über die weitere Digitalisierung im Sinne von digitalem Ticketing oder hybriden Veranstaltungen nach – legt also vor allem den Blick auf die Customer-Relationship-Optimierung. Das ist natürlich überaus wichtig. Aber sie sollte auch gleichsam intensiv überlegen, wie sie mithilfe der Digitalisierung und neuer Medientechnologien die Inszenierung von Live-Erlebnissen an sich revolutionieren und erweitern kann. Gerade nach Corona und den aktuellen Krisen braucht es eine Aufbruchstimmung und Mut für Neues.