Prof. h. c. Dr. Chirine Etezadzadeh gründete und leitet das SmartCity.institute in Stuttgart. Seit über zehn Jahren gestaltet sie mit zahlreichen Projekten, Publikationen und Veranstaltungen sowie beratend die Smart-City-Entwicklung mit. Von 2014 – 2016 hielt Prof. Etezadzadeh Vorlesungen zum Thema „Produktentwicklung für Smart Cities“ an der Technischen Hochschule Köln. 2017 wurde ihr eine Honorarprofessur von der Beijing Information Science & Technology University (BISTU) verliehen. Im Jahr 2017 veranstaltete Prof. Etezadzadeh gemeinsam mit der Messe Frankfurt die erste Smart City Convention, „Blisscity“. Mit ihrem Herausgeberband „Smart City – Made in Germany“, den sie mit über 140 Mitwirkenden gestaltet hat, hat sie ein deutsches Standardwerk zum Thema Smart City vorgelegt.
Frau Etezadzadeh, Sie haben 2014 das SmartCity.institute gegründet. Was hat Sie dazu bewegt?
Etezadzadeh: Nach fast zehn Jahren in der Automobilindustrie, später war ich auch in der Energiewirtschaft tätig, gelangte ich Anfang 2011 als Strategieberaterin zum Themenfeld Smart City. Nach einigen Jahren intensiver Projektarbeit zum Thema, wollte ich mich ohne Projekt-, Budget- und Zeitgrenzen mit dem System Stadt befassen. Es folgte die Vorlesung mit dem Titel „Produktentwicklung für Smart Cities“, dann die Institutsgründung.
Was waren/sind Ihre Ziele?
Etezadzadeh: Mein Ziel war und ist es, Zukunftsstädte und -gemeinden als Ganzes zu erforschen. Ich möchte die Bedeutung und Wirkungen verschiedener technischer, analoger und gesellschaftlicher Elemente ergründen sowie die sich wandelnden Haltungen und Bedürfnisse der verschiedenen Akteure verstehen. Dieses Wissen gebe ich weiter. Neben der Forschungsarbeit leisten wir Aufklärungsarbeit und erbringen Beratungsdienstleistungen.
Ein weiteres Ziel war es, die deutsche Smart-City- und Smart-Solutions-Entwicklung über den sektor-, disziplin- und akteursübergreifenden Austausch zu fördern, deutsche Kompetenzen zu bündeln und Lösungen in Anwendung zu bringen. Letzteres, also Implementierung zu initiieren, ist uns nicht gelungen. Alle anderen Vorhaben haben wir in Projekten umgesetzt bzw. verstetigt.
Wie gelingt es Ihnen den angesprochenen Austausch voranzutreiben? Auf welche Forschungsschwerpunkte konzentrieren Sie sich dabei?
Etezadzadeh: Bei uns wird Wissen aus ca. 20 verschiedenen Sektoren und Querschnittsthemen zusammengeführt. Bis 2018 wurde dies auf SmartCityNews.global teilweise sogar öffentlich getan. Wir haben im Rahmen von Veranstaltungen, Messen oder Publikationen und seit der Pandemie über Online-Formate unterschiedliche Akteure miteinander vernetzt oder bringen uns in entsprechende Aktivitäten ein.
Um diese Offenheit in der Wissensgenerierung in weiterführenden Projekten fruchtbar zu machen, werden Projektstrukturen entsprechend angelegt oder die Expertise wird über das Engagement unseres Instituts eingebracht.
Ihre Bemühungen gehen aber darüber hinaus, gleichzeitig sehen Sie Grenzen…
Etezadzadeh: In der Tat planen wir seit Langem implementierungsorientierte Expertengremien. Die Realität ist aber, dass – zumindest bislang – in Deutschland Projekte fehlen, welche das verständlicherweise oft kommerzielle Interesse relevanter Protagonisten wecken, sich intensiver in die Arbeit einzubringen. Vor diesem Hintergrund lassen wir die ansonsten recht weit gediehenen Aktivitäten aktuell ruhen.
Meines Erachtens fehlt in Deutschland bis heute die nötige Offenheit der Strukturen sowie der politisch-industrielle Kooperations- und kommunale Implementierungswille, um eine koordinierte und wertebasierte Smart-City-Entwicklung ernsthaft zu verfolgen. Letzteres sollte auch mit Blick auf Europa das Ziel sein.
Vor diesem Hintergrund prüfe ich auch nach über zehn Jahren Smart-City-Engagement kontinuierlich, in wie weit ein deutsches Smart-City-Institut eine Daseinsberechtigung hat. Im internationalen Vergleich wirkt das deutsche Smart-City-Geschehen blutarm und wenig gemeinschaftlich. Gute Begriffe nutzen sich mit geringer Wirksamkeit ab und werden ausgehöhlt. Gleichzeitig gibt es viele andere spannende Aufgaben, denen man sich mit Herzblut widmen kann.
Welche wesentlichen städtischen Veränderungen werden wir in den nächsten Jahren erleben und wie können wir uns ein Leben in der Stadt im Jahr 2050 vorstellen?
Was muss sich verändern und was sollte vielleicht sogar bleiben?
Etezadzadeh: Die letzten Jahre haben uns gezeigt, dass wir stärker mit exogenen Schocks oder auch mit den Konsequenzen unseres Verhaltens rechnen müssen. Wir erleben die Pandemie, Klimaveränderungen, Extremwetterereignisse und politische Instabilitäten mit ihren Folgen. Daher müssen wir uns einerseits fragen, wie wir solchen Entwicklungen entgegenwirken können. Andererseits sollten wir klären, wie wir als Kommune trotz möglicher Widrigkeiten und neuer Herausforderungen funktionsfähig bleiben und zukunftsfähig werden. Diesbezügliche Schlüsselbegriffe sind Resilienz und Nachhaltigkeit. Um in diesen Kategorien zu reüssieren, brauchen wir eine entsprechende infrastrukturelle Ausstattung mit vielen smarten Lösungen, gleichermaßen aber gesellschaftlichen Zusammenhalt, Bildung und ein „Vorbereitetsein“ auf Krisensituationen.
Generell müssen unsere Infrastrukturen modernisiert werden. Neue Technologien und Lösungen sollten längst in Anwendung gekommen sein, auch in der Verwaltung. Kreisläufe sind zu schließen und neue gemeinwohlorientierte Services zu schaffen. Bewahren sollten wir die Individualität der Städte. Ihre gewachsenen Strukturen ebenso wie die blau-grüne Infrastruktur, die es deutlich auszubauen gilt. Letztere wird dringend benötigte Lösungen liefern und gleichzeitig Kommunen und deren Aufenthaltsqualität aufwerten, also unmittelbar in die Attraktivität von Städten und Gemeinden einzahlen.
Was muss sich ändern, damit Städte wie Wien, Stuttgart oder Basel auch perspektivisch eine Zukunft haben? Wie gelingt es, dort einen Magnetismus und eine Dynamik herzustellen, dass unsere Städte attraktiv bleiben, unternehmerische Abwanderungen vermieden werden und die angesiedelten Player von der Attraktivität zur Ansiedlung neuer Arbeitskräfte profitieren können?
Etezadzadeh: Natürlich müssen wir vor allem gute Lebensbedingungen für die Bewohner der Städte und Gemeinden schaffen. Eine gute Grundversorgung, Sicherheit und die Möglichkeit, an einem Ort auskömmlich zu leben sind Voraussetzungen für ein gutes (Zusammen-)Leben. Eine schöne, gesunde, vielfältige und lebendige Gemeinde, attraktiviert eine Ansässigkeit und nette Bewohner, ein reichhaltiges kulturelles Leben oder auch viel Natur lassen uns gerne an einem Ort leben.
Durch die zuvor beschriebenen Anpassungen der Kommunen, wird sich das Antlitz einer Stadt oder Gemeinde sehr stark verändern. Denken Sie an neue Wege der Energiegewinnung, neue Formen der Mobilität, moderne Logistiklösungen, neue bauliche Strukturen, die Relevanz von Grünflächen und Stadtbegrünung, modernes Wassermanagement, zukünftige Produktions- und Versorgungsstrukturen, neue Rekreationsangebote oder urbane Resilienzmaßnahmen. Auch mit Blick auf den demografischen Wandel ergeben sich raumbezogene Notwendigkeiten.
Städten und Gemeinden, denen es gelingt, all das im Sinne ihrer Bewohner umzusetzen und dementsprechend ihre Zeichenhaftigkeit zu pflegen oder positiv zu verändern, attrahieren Menschen, evtl. Zielgruppen, damit Arbeitskräfte und auch Unternehmen. Eine moderne Verwaltung, adäquate IT-Infrastruktur und zeitgemäße Services tun ihr Übriges.
Die Themenreise macht dieses Jahr u.a. Halt in Wien, einer der lebenswertesten Städte der Welt und Vorreiter im Sinne einer Smart City. Wie gelingt einer Stadt wie Wien oder vergleichbaren Städten die urbane Vernetzung auch über die Stadtgrenze hinaus?
Etezadzadeh: Die Vernetzung ist das Prinzip der Smart City. Zudem ist es eine Prämisse der Smart-City-Entwicklung Prozesse aus Sicht der Nutzer und Betroffenen, also der Bewohner, Pendler, Touristen und Gemeindenachbarn sinnvoll zu gestalten. Am Anschaulichsten wird die Notwendigkeit der Vernetzung und Akteursorientierung über die Stadtgrenzen hinaus im Mobilitätsbereich. Das Ein- und Auspendeln muss ebenso gestaltet werden, wie die Bewegung in der Stadt. Überall sollten wir bei der Gestaltung von Mobilitätsangeboten nach nutzerorientierten komfortablen und nahtlosen Reisemöglichkeiten streben, insbesondere dann, wenn wir einen Beitrag zur Mobilitätswende leisten wollen.
Folglich müssen wir mit allen Nutzern und Betroffenen zusammenarbeiten und ihre Bedürfnisse in der Gestaltung berücksichtigen. Zudem sollten Zusammenschlüsse von Kommunen, von Stadtwerken und anderen Akteuren dazu beitragen, Lösungen zu entwickeln und ggf. gemeinschaftlich zu implementieren. So können Kosten geteilt und so kann von Erfahrungswissen profitiert werden. Wir kooperieren also in der Kommune, in der Region und darüber hinaus. All das erfordert selbstredend eine Mentalität, die Gestaltung zulässt.
Im Jahr 2050 werden rund 70% der Weltbevölkerung in Städten leben. Gleichermaßen hat man sich zum Ziel gesetzt – zumindest in Europa – bis zu diesem Zeitpunkt klimaneutral zu sein. Wie kann diese zunächst kontroverse Gegenüberstellung in Einklang gebracht werden?
Etezadzadeh: So kontrovers ist das nicht: Städte bündeln Bedarfe, Verbräuche und Emittenten. Skaleneffekte, Verbund- und Dichtevorteile können zu Einsparungen führen. Die Umstellung auf Zukunftstechnologien kann hier beherrschbar und koordiniert erfolgen, Regulierung kann zügig angepasst werden und über Größeneffekte lassen sich spürbare Veränderungen bewirken.
Das generelle Bevölkerungswachstum hingegen ist ein Problem. Menschliches Leben ist bislang an den Verbrauch von Umwelt geknüpft. Diesen Zusammenhang gilt es zu durchbrechen. Dabei ist jede/r von uns gefordert: Klimaneutralität bedarf zwar einer Energiewende, erfordert aber gleichsam ein gesamtgesellschaftliches Umdenken in Produktion, Konsum und Verbrauch.
Die Digitalisierung wird ein zentraler Punkt in Bezug auf eine smarte, nachhaltige und vernetzte Stadt der Zukunft sein. Inwiefern muss trotz aller Effizienz und Technologie der Fokus auf den Menschen gerichtet werden? Müssen wir uns nicht von einer Smart City zu einer Human City entwickeln?
Etezadzadeh: Meiner Meinung nach greift dieser Begriff zu kurz. Mit unserem Smart-City-Konzept Blisscity® versuchen wir, „wesensgerechte“, also den Bedürfnissen entsprechende, Städte und Gemeinden für alle Bewohner zu gestalten. Bewohner sind für uns: Menschen, Tiere und Pflanzen. Es ist evident, dass wir ohne die Tier- und Pflanzenwelt nicht auskommen. Dabei sind es nicht nur die Ökosystemleistungen, mit welchen uns die Natur als kritische Infrastruktur versorgt. Es ist auch die Schönheit des Natürlichen und des Lebendigen, die unsere Lebenswelt lebenswert und attraktiver sowie uns und unsere Städte gesünder macht.
Wie seit je her gesagt, sind smarte Lösungen für uns Instrumente, die dazu beitragen können, Kommunen nachhaltig, resilient und lebenswert zu gestalten und weiterhin kein Selbstzweck.
In Ihrem Buch: Smart City-Made in Germany schreiben Sie über die Smart-City-Bewegung als Treiber einer gesellschaftlichen Transformation und haben hier mit führenden deutschen Unternehmen, Verbänden, Vereinen, Universitäten, Forschungseinrichtungen, Stiftungen, NGOs, Startups und Expert:innen sowie Vertreter:innen der Bundes-, Landes- und Kommunalverwaltung gesprochen. Was sind dabei Ihre wichtigsten Erkenntnisse?
Etezadzadeh: Ich komme zu folgenden Schlüssen: In Deutschland und respektive in Europa haben wir in nahezu allen Sektoren Expert:innen und Lösungen, die schon heute zu unserer Zukunftsfähigkeit beitragen könnten. Teilweise herrscht jedoch noch erheblicher Entwicklungsbedarf, um die Vision einer Smart City Realität werden zu lassen. Hierfür brauchen wir deutsche und europäische Produkte und Standards. Generell sollten mehr deutsche Entwicklungen zur Marktreife gebracht, dann aber auch implementiert werden.
Zur Gestaltung von Smart-City-Lösungen, die m. E. oft zu Elementen der Daseinsvorsorge zählen, fehlt es noch an Kooperation, hinsichtlich ihrer Implementierung an Finanzierungsmöglichkeiten. In diesem Zusammenhang erweist sich zudem die im Spezifischen betrachtete gute deutsche Regulierung, in ihrem Zusammenwirken teilweise als Hemmschuh.
Ich erkenne in Deutschland einen großen Konsens bezüglich unserer Wertebasis und der Grenzen von Digitalisierung. Es gibt Gestaltungswille und viele Akteure, die sich einbringen möchten. Wir brauchen jedoch Strukturen, die dies zulassen.
Wenn Sie einen Wunsch an die Stadt der Zukunft frei hätten, welcher wäre das?
Etezadzadeh: Ich wünsche mir, dass wir uns möglichst vieles von dem, was wir heute schätzen, bewahren können und gleichzeitig im Einklang mit der natürlichen Umwelt leben werden. Demnach sollte die Stadt der Zukunft vielleicht eine Blisscity® sein, in einer Ausprägung, die unsere positivsten Hoffnungen übertrifft.