In welches Unternehmen kann man investieren? Warum kommt die eine Firma mit Herausforderungen besser klar als die andere? Welche Auswirkungen haben neue technologische Entwicklungen oder politische Entscheidungen? Mit diesen Fragen beschäftigt sich Gerhard Wolf im LBBW Research. Als Finanzanalyst muss er darüber informiert sein, was in der Welt geschieht und wie die Börse darauf reagiert. Und er muss antizipieren, wie sie weiter reagieren wird. Der Betriebswirt verantwortet seit November 2008 als Leiter die Gruppe Corporate Research bei der LBBW und gilt vor allem als ausgewiesener Experte im Bereich Automotive und Mobilität.
Heinzpeter Kärner ist seit November 2006 bei Drees & Sommer und leitet dort den Bereich Strategic Corporate Development und Corporate Research. Der Bereich Corporate Research analysiert Trends, Märkte und Wettbewerbsumfeld der Bau- und Immobilienbranche sowie der Schlüsselbranchen und leitet daraus Chancen und Risiken ab. Mit 15 Jahren Branchen- und Firmenerfahrung ist er Experte für Markt- und Trendprognosen und Analysen von Geschäftsfeldern.
Herr Wolf, eine eigene Corporate-Research-Abteilung gibt es nur in wenigen Unternehmen. Welche Aufgaben hat Ihre Abteilung innerhalb der Landesbank Baden-Württemberg?
Wolf: Das Research ist ein eigenständiger Bereich mit unserem Chef-Volkswirt Uwe Burkert an der Spitze. Die Kolleginnen und Kollegen in der Strategie beschäftigen sich mit dem großen Bild der Volkswirtschaft und der Kapitalmärkte. Da geht es um die BIP- und Zinsentwicklung, um Währungen und um Rohstoffe. Und, daraus abgeleitet: um Anlagestrategien. In der Gruppe Corporates analysieren wir mit 15 Analysten regelmäßig mehr als 250 Unternehmen am Kapitalmarkt. Jeder Analyst hat Verantwortung– für etwa 15 bis 20 Unternehmen – wir nennen das Coverage. Hinzu kommt der Sektorblick, also die Analyse von Einflussfaktoren für Entwicklungen der relevantesten Branchen. Es gilt, durch profunde Analysen einen deutlichen Mehrwert für die Finanzmarktakteure zu schaffen. Das tun wir in den Assetklassen Aktien, Credit – da geht es um Unternehmensanleihen – und für über LBBW Corporate Finance arrangierte Schuldscheindarlehen der Unternehmen.
Wer sind Ihre Kunden und Auftraggeber?
Wolf: Investoren im institutionellen Bereich, Sparkassen und Privatkunden, aber auch LBBW-interne Kundeneinheiten aus dem Privat- und Unternehmenskundengeschäft. Außerdem die Steuerungseinheiten des Hauses, also Vorstand, Risikocontrolling und Marktfolge. Wir richten uns auch an die Medien, um unsere Studieninhalte zu vermarkten. Alles in allem haben wir ein breites Aufgabenspektrum. Damit sind Abwechslung und Spannung garantiert.
Herr Kärner, mit welchen Themen befasst sich das Corporate Research von Drees & Sommer?
Kärner: Im Vordergrund stehen die Analyse und Entscheidungsfundierung strategischer Themen. Grob gesagt beschäftigen wir uns unter anderem mit der Trendforschung und mit Wettbewerbs-, Länder- und Marktanalysen, betreuen Sales-Datenbanken und Informationsdienste und füttern unsere Research-Datenbank im Intranet mit neuen wichtigen Studien. Das Besondere an der Trendforschung ist, dass wir von uns identifizierte Business- und Trend-Impulse bewerten und in Workshops mit den Experten und Branchen-, Bereichs- und Standortverantwortlichen von Drees & Sommer spiegeln und damit Theorie und Praxis vereinen und damit gemeinsam Impulse für Innovationen setzen.
Welche drei Trends werden die Branchen, die Sie besonders im Blick haben, künftig mit hoher Wahrscheinlichkeit am meisten beeinflussen?
Wolf: Für die Unternehmen und Branchen sind die Megatrends für ihr Geschäft die Digitalisierung, die Nachhaltigkeit und geopolitische Veränderungen. Hinter letzterem sehen wir in den vergangenen Jahren etwa den Brexit, Krisen in der Türkei oder den Aufstieg Chinas und den Handelskonflikt mit den USA. Mit Corona rücken Tendenzen wie die Reduzierung des globalen Handels und die Rückkehr zu regionaler Produktion in den Mittelpunkt. Gleichzeitig schließen sich Länder zu größeren Freihandelszonen zusammen wie jüngst die RCEP im Raum Asien-Pazifik. Die Digitalisierung ist längst präsent. Dabei geht es um mehr als nur Homeoffice. Es geht um die Digitalisierung von Prozessen, von Produkten, von Wertschöpfungsketten bis hin zu ganzen Geschäftsmodellen. Nach der Medienbranche und dem Einzelhandel ist der Autosektor die nächste Industrie, die radikal umgekrempelt wird, durch Technologie und vor allem durch neue Wettbewerber von außen. Der Megatrend Nachhaltigkeit hat sich durch Corona weiter beschleunigt. War es anfangs ein schickes Anhängsel in der Kommunikation, wird er zunehmend zum integralen Bestandteil der Strategie. Das Pariser Klimaschutzabkommen wirkt sich immer mehr auf die Produktion und direkt auf die Produkte selbst aus.
Kärner: In der Bau- und Immobilienwirtschaft sieht das nicht viel anders aus. Die Digitalisierung inklusive der Sensorik und die Nachhaltigkeit mit einem Fokus auf den Menschen und seine Bedürfnisse sind auch dort aktuell zentral. Als dritten Trend würde ich den Punkt Modularisierung und Vorfertigung nennen.
Und welche Auswirkungen haben die Trends auf die Unternehmen?
Wolf: Da geht es um dreierlei: Um Investitionen, Umbau und Flexibilität. Die Unternehmen müssen erheblich in neue Technologien und neue Fähigkeiten ihrer Mitarbeiter investieren. Die Autoindustrie gibt beispielsweise ganz massiv Geld für Softwarekompetenz aus. Das Auto entwickelt sich immer mehr zum Smartphone auf Rädern. Dazu braucht es ein einheitliches Betriebssystem, aber auch eine leistungsstarke Cloud zur Verarbeitung aller Daten, damit autonomes Fahren in Zukunft möglich wird. Die Chemieindustrie wiederum ist durch direkte Emissionen in der Produktion, indirekte Emissionen beim Strombezug und aufgrund der durch ihre eigenen Produkte entstandenen Emissionen ein großer Treibhausgas-Verursacher. Um eine völlige Treibhausgasneutralität in allen Bereichen zu erreichen, werden in den nächsten Jahren zusätzliche Investitionen von 45 Milliarden Euro nötig. Immer mehr Unternehmen beginnen daher, ihre Strukturen umzubauen, sich zu fokussieren, Teile abzutrennen und in Zukunftsthemen durch Kooperationen oder Zukäufe zu investieren. Neue Ideen brauchen Platz, Kreativität braucht neuen Raum.
Kärner: Die Nachhaltigkeit ist ganz klar Thema Nummer eins – mit den Aspekten Energieeffizienz, Materialqualität und Umweltfreundlichkeit. Der aufkommende Trend Green Tech und Clean Tech nimmt Fahrt auf. Das zentrale Nachhaltigkeitsthema der Zukunft wird Wasser sein, da steigert sich das Bewusstsein zunehmend. Noch in den Anfängen steckt der Trend Sensorik verbunden mit lernenden Algorithmen und autonomen Dingen, die in Zukunft unser Wohnen und Arbeiten in Smart Buildings komfortabler gestalten werden, aber auch Sensorik in der Stadt. Modularisierung und Vorfertigung tragen dazu bei, Bauzeiten und Baukosten zu optimieren. Was bei privaten Einfamilienhäusern längst etabliert ist, wird künftig den Markt der Gewerbebauten verändern und das wichtige gesellschaftliche Thema bezahlbares Wohnen unterstützen. Die Branche erprobt gerade Techniken wie den 3D-Druck von Gebäudeteilen. Das ist aber noch in den Kinderschuhen.
Wir halten fest: Das Corporate Research versucht möglichst fundierte Voraussagen zu treffen, womit wir alle uns in der nächsten Zukunft beschäftigen werden. Hat die Akkuratesse der Prognosen durch die neuen technischen Möglichkeiten zugenommen?
Wolf: Die Möglichkeiten und das Wissen haben zugenommen, das hilft in der Analyse. Wir haben mit dem Internet sehr viel mehr an Informationen, sehr viel schneller und gleichzeitig für alle verfügbar. Dann haben wir neue Möglichkeiten der Datenauswertung, neue Finanzmodelle und neue Wissenschaftserkenntnisse. Mit Künstlicher Intelligenz und deren Ansatz von predictive analytics stehen wir erst am Anfang. Es gibt Marktteilnehmer, die satellitengestützte Bildauswertungen von Parkplätzen im Einzelhandel oder von Autoherstellern zur Umsatzeinschätzung heranziehen. Mit diesen technischen Möglichkeiten müsste man also annehmen, dass Prognosen immer besser werden. Aber die menschliche Komponente ist nicht zu unterschätzen. Psychologie, Herdenverhalten, unterschiedliche Erwartungen führen immer wieder zu irrationalen Über- oder Untertreibungen. Hinzu kommen politische, gesellschaftliche Veränderungen, Tweets von Politikern, die allesamt zu einer höheren Volatilität und permanenten Veränderungen führen.
Die Themenreise 2021 steht unter dem Motto: „Aufbruch zur nachhaltigen Transformation – Wie entwickelt sich der Markt von Morgen?“ Dürfen wir Sie um eine Einschätzung bitten, Herr Wolf?
Wolf: Nach dem tiefen Einbruch der Wirtschaft im vergangenen Jahr, als das BIP in Deutschland um 5,3 Prozent gesunken ist und in Europa um 7,2 Prozent, erwarten wir für 2021 ein Wachstum von 2,5 Prozent für Deutschland und vier Prozent für Europa. Mit Blick auf die Corona-Pandemie bleibt die Zeit bis Ostern kritisch. Danach sollte mit steigendem Impffortschritt und der wärmeren Jahreszeit eine deutliche Belebung der Wirtschaft eintreten. Gleichzeitig wächst der Markt für nachhaltige Anlagen und Finanzierungen stark. 2020 wurden neue ESG-Anleihen in einem Volumen von 350 Milliarden Euro emittiert. Davon alleine 75 Milliarden Euro von Unternehmen. Die Tendenz ist weiter steigend.
Und auf welches veränderte Nachfrageverhalten müssen wir uns einstellen?
Wolf: Nun, im Privatkundenbereich sehen wir schon lange den Trend zum Onlinegeschäft. Das hat sich durch Corona verstärkt. So entwickelte sich das Einzelhandelsgeschäft 2020 zweigeteilt. Während der stationäre Einzelhandel 2,7 Prozent im Minus lag, legte das Online-Geschäft um 21,5 Prozent zu. Fairerweise muss man dazusagen: natürlich von einer niedrigeren Basis aus. Aber dieser Trend wird sich fortsetzen. Das bedeutet nicht, dass wir nur noch Online-Handel sehen. Aber die Läden müssen sich auf Omni-Channel einstellen. Durch die Regulatorik wird der Fokus beim Verbrauch auf Nachhaltigkeit gelegt. Denken sie nur an die Kaufprämien für Elektroautos oder die CO2-Steuer im Bereich Kraftstoffe und Wärme fürs Haus.
Bereiten sich die betroffenen Unternehmen ausreichend auf die neuen Begebenheiten vor?
Wolf: Corona war wie ein Weckruf. 97 Prozent der Unternehmen sehen in der Digitalisierung eine Chance. Allerdings sehen sich auch 71 Prozent der Befragten noch als Nachzügler. Das bedeutet, da ist noch sehr viel zu tun.
Worin sehen Sie diesbezüglich die Rolle Ihres Unternehmens?
Wolf: Für die LBBW sind die Themen Digitalisierung und Nachhaltigkeit fester Bestandteil der Unternehmensstrategie. Das veränderte Kundenverhalten und ein volatiles Umfeld erfordern eine bereichsübergreifende, schnelle, unbürokratische und teamorientierte Arbeitsweise. Dazu zählt auch die verantwortungsbewusste Finanzierung und Begleitung unserer Kunden beim Wandel ihrer Geschäftsmodelle und die Ausrichtung auf sich verändernde Anlagebedürfnisse.
Kärner: Genauso ist es bei uns. Drees & Sommer steht seit 50 Jahren für Nachhaltigkeit bei Immobilien und Bau. Auch in der Digitalisierung wollen wir Innovator sein, damit unsere Kunden von zukunftsfähigen Gebäuden profitieren. Um zu überzeugen, musst du als Unternehmen leben, was du predigst. Deswegen bauen wir gerade ein neues Bürogebäude, das selbst digital ist, das digitale Arbeiten mit vielen verschiedenen flexibel anpassungsfähigen Arbeitsplatzqualitäten unterstützt und ein innovatives nachhaltiges Fassadenkonzept hat.