Als Algenexperte sitzt Jörg Ullmann in verschiedenen Gremien, schreibt Bücher und hat auch schon die Europäische Kommission beraten. Am Anfang seines beruflichen Werdegangs stand noch der Zufall. Der Biologe, Innovations- und Führungsmanager stieß nach seiner Unikarriere 2004 auf die Algenfarm Klötze, wurde Produktionsleiter und bewies sich im Marketing und Vertrieb bei komplexen fachspezifischen Kundenanfragen, bevor er 2014 die Geschäftsführung des inzwischen zur Roquette Klötze GmbH & Co. KG umbenannten Unternehmens übernahm. Seitdem ist er verantwortlich für die strategische Entwicklung und für Forschungsprojekte. Ullmann schrieb mehrere populärwissenschaftliche Bücher über Mikroalgen, unter anderem eines zur Lebensmittelhygiene und ein Algen-Kochbuch, das die Goldmedaille der Gastronomischen Akademie Deutschlands gewann.
Herr Ullmann, wenn man nach Lösungen für Ernährungsprobleme durch das Bevölkerungswachstum auf der Welt fragt, denkt man nicht unbedingt an Algen. Sie könnten aber durchaus einmal eine Rolle spielen. Wie kommt das?
Ullmann: Algen als Lebens- oder Futtermittel stehen seit den 1950er Jahren im Fokus. Rund 25 Prozent der damaligen Weltbevölkerung von ca. drei Mrd. Menschen litten unter Proteinmangel. Und es war klar, dass die Zahl der Menschen auf unserer Erde weiter steigen wird. Vor diesem Hintergrund wandte man sich den sogenannten effizienten Mikroorganismen zu, vor allem Mikroalgen wie Chlorella und Spirulina. Deren Biomasse besteht zu 50 bis 60 Prozent aus reinem Protein, mehr als bei einem Schnitzel oder Ei. Algen wachsen dabei 10-30 Mal schneller als Landpflanzen, enthalten alle wichtigen Nährstoffe und können ohne Einsatz von Pestiziden oder Antibiotika angebaut werden. Da pro Kopf immer weniger Ackerland zur Verfügung steht, um Lebensmittel anzubauen, sind Reaktorsysteme zunehmend interessant, um (Algen-)Biomasse unabhängig von Ackerland zu gewinnen (Landless Food), z.B. auch in Wüsten oder im urbanen Raum. Algen als alternative Proteinquelle sind nach wie vor ein Thema. Wir sind leider nur immer noch ein bisschen zu teuer, um im großen Maßstab helfen zu können.
Auch beim Trend Healthy Lifestyle spielen Algen eine Rolle.
Ullmann: Ja, die gesundheitlichen Wirkungen von Algen sind nicht von der Hand zu weisen, viele Studien belegen das. Wir tun uns etwas Gutes, wenn wir Algen kontrolliert in die Ernährung einbauen. Meeresalgen können große Mengen Jod akkumulieren und Mitteleuropa ist zum Beispiel Jodmangelgebiet. Diese Algen sind sehr mineralienreich und enthalten sehr viele sekundäre Pflanzeninhaltsstoffe und vor allem eben Jod. Trotz Supplementierung im Speisesalz nehmen 30 Prozent der Erwachsenen und 50 Prozent der Kinder hier in Deutschland zu wenig davon zu sich, dabei ist Jod wichtig für die Ausprägung und Entwicklung des Nervensystems. Jodmangel korreliert auch mit anderen Krankheiten wie Brustkrebs. Außerdem lässt sich durch den Zusatz von Meeresalgen der Gehalt von Natriumchlorid, also Kochsalz, in verarbeiteten Lebensmitteln um bis zu 30 Prozent senken, ohne auf Geschmack verzichten zu müssen – wir alle essen zu viel Salz, was zu Herz- und Kreislaufproblemen führt und das Gesundheitssystem belastet. Zudem sind Algen die eigentlich einzige Vitamin B12-Quellen außerhalb tierischer Lebensmittel. Das spricht Ältere mit einem Mangel an und natürlich Veganer. In Backwaren können Algen Butter und Ei ersetzen für eine kalorien- und allergenreduzierte Ernährung. Kurzum: In ihnen steckt ein riesiges Potenzial und die Lebensmittelindustrie hat das im Fokus, wobei deren Interesse noch anderen Aspekten gilt.
Welche sind das?
Ullmann: Sie braucht funktionelle Inhaltsstoffe und natürliche Farbstoffe. Und obwohl der industrielle Algenanbau erst 70 Jahre alt ist, ist die Verwendung von Algenextrakten bereits sehr weit verbreitet. Funktionale Inhaltsstoffe sind Extrakte aus Rot- und Braunalgen wie Agar-Agar, Carrageen oder Alginate, die als Emulgatoren, Verdickungs- oder Überzugsmittel in vielen Lebensmitteln drin sind: in Mayonnaise, Puddings oder Kräuterdressings. Das weiß der Verbraucher oft nicht. Bei den Farbstoffen löst blaues Spirulina-Extrakt vor allem im Süßwarenbereich die synthetischen Farbstoffe ab. Wenn Sie blaue oder grüne Schokolinsen oder Gummibärchen naschen, ist da mit hoher Wahrscheinlichkeit Spirulina-Extrakt drin. Auch das ist ein Gesundheitsaspekt, denn einige dieser synthetischen Stoffe stehen im Verdacht Allergien oder Hyperaktivität bei Kinder auszulösen.
Als Delikatesse treten Algen ebenfalls immer stärker in Erscheinung.
Ullmann: Genau. Die Küchen Europas haben die Meeresalgen als gesundes Gemüse wiederentdeckt. In den Küstenregionen in der Bretagne, in Irland oder Schottland nutzen die Menschen Algen schon seit Jahrhunderten, sie liegen bei Ebbe ja wie ein gedeckter Tisch vor ihnen. Nicht nur die Haute Cuisine, also die gehobene Küche, macht aus Algen ganz feine Speisen. Sie kommen mittlerweile auch in den heimischen Küchen an. Einige Algen enthalten extrem viel Glutaminsäure, mit der sich der Umami-Geschmack darstellen lässt. Japaner wissen das schon lange, hier stellt man nun auch wieder fest, wie viele spannende Gerichte man mit Algen machen kann. Die Palette an Geschmäckern ist dabei sehr vielfältig. Es macht Spaß, damit in der Küche zu experimentieren.
Könnten Algen auch als grüner Treibstoff der Energiewende nutzen?
Ullmann: Das Thema kommt immer wieder hoch, schon während der letzten großen Ölkrise, zuletzt vor einigen Jahren durch die Diskussionen um CO2 und die Klimaerwärmung. Forschungen zeigen, dass sich aus Algen im Labor und im Pilotmaßstab Biodiesel, Ethanol und sogar Wasserstoff herstellen lässt. Aber sobald es um einen größeren Maßstab geht, wird es viel zu teuer. Da können andere Technologien schneller profitabel sein. Ich sehe Algen da auf absehbare Zeit nicht in der Anwendung.
Wie steht es generell um die Produktionskosten? Sie haben ja bereits beim Punkt alternative Proteinquelle gesagt, dass Algen noch zu teuer sind, um richtig durchstarten zu können.
Ullmann: Die Produktionskosten sind heute noch vergleichsweise hoch. Das ist aber auch nicht sehr verwunderlich. Mit nur ca. 70 Jahren Geschichte des industriellen Algenanbaus weltweit stehen wir ziemlich am Anfang unserer Entwicklungsgeschichte, während etwa die konventionelle Landwirtschaft auf eine mehr als 10.000 Jahre lange Kulturhistorie zurückblickt. In der Algenbranche fahren wir praktisch noch das erste Auto oder arbeiten mit dem ersten Computer: Die Technologien funktionieren, lassen sich aber noch nicht in große Dimensionen skalieren. Es ist noch sehr aufwendig, Algen anzubauen, zu ernten und zu trocknen. Das ändert sich gerade. Auch diese Innovation unterliegt einer Evolution, das heißt, ließen sich am Anfang die Algen quasi nur im Hochpreissegment als Nahrungsergänzungsmittel oder Rohstoff für Kosmetika verkaufen, kommen mittlerweile kostengünstigere Produktionsmethoden und Produktinnovationen auf den Markt, die größere Mengen und niedrigere Produktionskosten realisieren. Beispiele sind das Spirulina-Blau als natürlicher Farbstoff oder Omega-3-Fettsäuren als Fischfutterzusatz, die durch Fermentation von Mikroalgen gewonnen werden. Unser Markt wächst und Produktinnovationen und die sinkenden Produktionskosten sind das Fundament dafür.
Wie steht Deutschland im internationalen Vergleich da?
Ullmann: Wir stehen uns in Deutschland manchmal selbst im Weg. Ich habe das Gefühl, dass andere Länder schneller voranschreiten. Auf der anderen Seite des großen Teichs können Sie Projekte mit ganz anderen Finanzmitteln vorantreiben. Das ist aber kein spezifisches Problem unserer Branche, das kennt jeder Technologieentwickler. Und was die Algenindustrie betrifft, kann ich sagen, dass wir bei der Technologieentwicklung tatsächlich sehr gut dastehen. Zwar werden Makroalgen und deren Extrakte vor allem in China, Indonesien und auf den Philippinen produziert und außerhalb Asiens in Chile. Doch bei uns forscht die IGV GmbH aus Bergholz-Rehbrücke bei Potsdam seit den 80er-Jahren. Unsere Mikroalgenproduktionsanlage, die 1999 die erste ganz Europas war, geht auf deren Arbeit zurück – wir haben da also Pionierarbeit geleistet. Mittlerweile gibt es mehrere Anlagenbauer und unterschiedliche Technologien in Deutschland, auch an den Hochschulen sind wir gut aufgestellt. Man kann sagen, wir gehören zur Weltspitze. Auch insgesamt in Europa hat sich innerhalb der vergangenen 20 Jahre einiges getan. Jetzt müssten wir aus dem Kleinteiligen rauskommen und ein größeres Konstrukt schmieden, um Kosten zu senken, schlagkräftiger zu werden und die ganzen spannenden Forschungsergebnisse in Produkte umzuwandeln.
Wie versuchen Sie Algen und alles, was mit ihnen zusammenhängt, bekannter und greifbarer zu machen?
Ullmann: Wir waren schon oft Interviewpartner fürs Fernsehen und große Zeitschriften. Da kommt uns entgegen, dass sich auf unserer Anlage visuell schöne Bilder machen lassen, das sieht futuristisch aus, da lässt sich eine gute Story erzählen. Uns war von Anfang an klar, dass es nicht funktionieren kann, etwas komplett Unbekanntes einfach zu produzieren und zu verkaufen. Wir mussten uns etwas einfallen lassen, um eine Nachfrage zu generieren – und wir konnten nichts kopieren oder „klauen“. Das war nicht leicht, aber ich fand es total spannend. Wir haben begonnen, populärwissenschaftlich zu publizieren, weil es Forschungsergebnisse nur in einem Wissenschaftsenglisch gab, das die Oma nicht versteht, der wir erklären wollten, warum sie Algen essen soll – in einfachen Worten, aber mit einem wissenschaftlichen Anspruch und ohne ins Esoterische abzudriften. Ich habe einen Blog gestartet über die Welt der Algen, um all die interessanten Geschichten zusammenzutragen. Ich hatte mich immer gefragt, warum das keiner macht. Warum keiner erzählt, dass jedes zweite Sauerstoffmolekül von einer Alge kommt, oder dass Algen den Sex erfunden haben …
Moment, wie bitte?
Ullmann: Ja, das waren die Rotalgen und es gibt so viele spannende Aspekte, über die davor nie jemand gesprochen hat. Algen sind die Erfinder der Photosynthese, die Vorläufer der Landpflanzen, die wichtigste Primärproduzenten im Wasser, ohne die es dort kein Leben gebe. Über den Blog kam der Kosmos-Verlag auf mich zu und hat gefragt, ob ich nicht Lust hätte, ein Kochbuch zu schreiben. Nun sind wir gerade dabei, eine Algen-Erlebniswelt auf unserem Gelände einzurichten, mit Algenmuseum, Algenküche, Experimentierraum, Algenbar, Meeresleuchten. So etwas gibt es weltweit auch noch nicht. Mit einem Experimentierkasten für Kinder sind wir aktuell beim Bestform-Award, einem Preis für die Kreativ- und Kulturwirtschaft, unter die besten Elf gekommen. Auch ein Weltalgentag (World Algae Day) hat bislang noch gefehlt. Ich neige normalerweise eher zum Understatement, aber diese Idee habe ich lange mit mir rumgeschleppt, und weil es mir kein anderer abgenommen hat, habe ich das halt auch noch initiiert. Den Weltalgentag feiern wir jetzt immer am 12. Oktober, mittlerweile weltweit und vergangenes Jahr habe ich zum Beispiel eine Mail aus Indien von einer Universität bekommen, die extra einen zweitägigen Kurs über Algen als Lebensmittel veranstaltet hat. Zusätzlich wurde in Zeitungen darüber berichtet und verschiedene Aktionen werden organisiert – ein großer Erfolg.
Man kann Ihnen also wirklich nicht vorwerfen, Sie würden zu wenig tun, um die Alge zu vermarkten. Sind andere Akteure auch mit im Boot?
Ullmann: Die Europäische Kommission treibt die Frage, wie man Algen bekannter machen kann, ebenfalls um. Ich habe demnächst ein Webmeeting mit dem zuständigen EU-Kommissar. Es gibt da aus meiner Sicht ganz einfache Rezepte. Das fängt in der Bildung an: An den Schulen werden Algen noch sehr stiefmütterlich behandelt, die Lebensmitteltechnologen und die Ökotrophologen haben Algen noch nicht in ihren Studienplänen. Das zu ändern, wäre der erste Punkt. Und wir sehen noch ganz viele andere weiße Stellen auf der Landkarte. Es ist nicht so, dass wir vor einem Problem stehen und nicht wissen, wie wir es lösen sollen, sondern eher, dass wir eine Lösung haben und uns fragen, wann wir dazukommen, sie umzusetzen. Mein nächstes Projekt ist ein Lehrbuch, in dem man alles, was ich Ihnen erzählt habe, mit den entsprechenden Quellen nachlesen kann.
Herr Ullmann, lassen Sie uns zum Abschluss auf einen Bereich zu sprechen kommen, der Drees & Sommer besonders interessiert: Welche Anwendungsfelder gibt es für den Immobilienbereich, wie kann die Alge Quartiere verbessern?
Ullmann: Ich persönlich habe dieses Thema immer sehr kritisch betrachtet, weil mir bislang nur Anwendungen mit großem Aufwand und vollmundigen Versprechungen begegnet sind, die mit der Realität wenig zu tun hatten. In Hamburg steht ein Algenhaus mit einer Art flacher Aquarien, die Biomasse produzieren sollen, Wärme über Wärmetauscher zu nutzen und das Haus ein wenig energieautark zu machen. Ich habe damals in meinem Blog geschrieben, dass man sich mit dem, was energetisch mit der Alge rumkommt, bestenfalls dreimal im Jahr eine Kanne Kaffee kochen kann. Das hat mir ein paar böse Rückmeldungen eingebracht. Aber mir geht es immer darum, nicht Massen an Geld zu verbrennen, wie das etwa beim Thema Biodiesel aus Algen geschehen ist. Es braucht noch eine ganze Menge Arbeit, bis wir mithilfe von Algen ein Konzept haben, mit dem wir Abfallströme wie Abwässer, Abwärme oder CO2 zur Algenproduktion nutzen und die Biomasse vielleicht mittel überzeugender Bioraffinerie-Konzepte mehrfach nutzen können. Dennoch: Die Megatrends Urbanisierung, Dekarbonisierung und Kreislaufwirtschaft haben uns dazu bewogen, eine Bachelorarbeit zu initiieren, die unvoreingenommen untersuchen soll, was möglich ist. Sei es nur ein einfaches Algenbecken auf Dächern für Nahrungsergänzungsmittel, wie es in Bangkok häufig zu sehen ist. Seien es Fassadenelemente als eigene Konstruktion. Oder, der Punkt, den ich am attraktivsten finde: Biofilme auf bestehenden Fassaden, ohne Extrakonstruktion (Umweltadaptive Mikroalgen-Biofilme).
Warum interessiert Sie gerade dieser Punkt?
Ullmann: Ich bin ein Freund davon, zu schauen, was es in die Natur schon gibt und wie ich das nutzen kann. Wenn Sie mit dem Auto unterwegs sind, fällt Ihnen vielleicht auf, dass die Rinde der Bäume am Straßenrand oft einen rostroten Belag hat. Dort hat sich quasi eine Alge als Zeigerpflanze angesiedelt. Die Überdüngung der Luft durch „verbrannten“ Harnstoff in AdBlue-Zusätzen für Dieselfahrzeuge hat dazu führt, dass sich diese Algen oder Gelbflechten ansiedeln, weil die diesen Stickstoff super finden. Neulich bin ich in Mecklenburg an einem Haus vorbeigekommen, an dessen Fassade sich ebenfalls ein gleichmäßiger Algenfilm angeheftet hat, wahrscheinlich durch Fehler bei der Dämmung. Da liegen Lösungen auf dem Tablett. Diese Algen könnten wir zur Luftreinigung einsetzen, das Mikroklima würde sich verbessern, sie könnten Sauerstoff produzieren oder Bioindikator sein. Über die Stoffwechselleistung der Algen ließe sich zum Beispiel durch fluorimetrische Verfahren feststellen, ob und wieviel Stress die Algen haben, ob zu viele Lkw in dem Stadtteil fahren und ob man den Verkehr umleiten muss. Da ergeben sich ganz viele spannende Möglichkeiten. Und das einfach nur, indem wir etwas machen, was in der Natur schon gang und gäbe ist.