Reza Razavi beschäftigt sich seit vielen Jahren mit dem Thema Transformation. Nach Studiengängen der Betriebswirtschaftslehre, Wirtschaftsinformatik sowie Daten- und Informationsmanagement in Hamburg widmete er sich zunächst im Management Zentrum in St. Gallen den Themen Kultur, Management und Strategie. Bei der BMW-Group war er als Senior Expert für den Aftersales-Bereich Kultur und Transformation verantwortlich und beriet als Inhouse-Consultant Führungskräfte und Mitarbeitende. Reza Razavi ist zudem Mitbegründer des Connected Culture Club (CCC), einer Bottom-up- und bereichsübergreifenden Bewegung für die kulturelle Transformation von BMW.
Drees & Sommer (D&S): Herr Razavi, wir freuen uns, dass Sie mit uns über Transformation sprechen.
Reza Razavi: Ich freue mich auch. Transformation ist für mich eine Herzensangelegenheit und ein Lebensthema. Ich halte die Transformation für das wichtigste Thema, das uns heute in Gesellschaft und Wirtschaft beschäftigt. Ob wir scheitern oder uns zu neuer Blüte aufschwingen – die Zukunft liegt gestaltbar in unseren Händen und Köpfen. Entscheidend ist, wie wir als Menschen und Gesellschaft die Transformationsthemen anpacken und wie wir unser vorhandenes Potenzial nutzen, um das Gelingen zu fördern und die Risiken zu minimieren.
D&S: Wir streben mit unserem Netzwerk der Themenreise eine Transformation zum Positiven an. Und fragen uns in diesem Jahr erneut: Wie kann das gelingen, erst recht in turbulenten Zeiten wie unseren? Was ist Ihre Antwort darauf?
Reza Razavi: Wenn du dir Transformation auf deine Fahnen schreibst, dann hast du vor, dich neu zu erfinden. Zunächst einmal ist es wichtig, den Wandel wirklich zu verstehen. Wenn wir den Wandel angemessen begleiten und steuern wollen, brauchen wir ein neues Denken. Wir brauchen ein anderes Verständnis von Wandel. Ich beobachte häufig, dass viele Menschen Change und Transformation miteinander verwechseln. Nicht alles, was mit Veränderung zu tun hat, ist automatisch Transformation. Man muss sich von alten Denkweisen, Methoden und Logiken lösen. Transformation braucht einen Paradigmenwechsel im Sinne des amerikanischen Wirtschafts-philosophen und Wissenschaftshistorikers Thomas Samuel Kuhn. Aber Transformationsphasen sind tragisch und faszinierend gleichermaßen. Die Tragik ergibt sich daraus, dass ein Übergang einige Verlierer hervorbringt; die Faszination liegt darin, dass uns das Neue zum Staunen bringt. Wir sind voller Hoffnung, weil die Veränderung verheißt, eine Entwicklung hin zum Besseren zu sein, und werden enttäuscht sein, weil mit dem Neuen auch neue Probleme entstehen werden. Transformation ist somit auch emotional ein Wechselbad der Gefühle, ein Auf und Ab. Es liegt in unserer Hand, wie wir wahrnehmen wollen.
D&S: Was verstand Kuhn darunter?
Reza Razavi: Für ihn war ein Paradigma die Organisation von Sichtweisen, ein Ordnungsprinzip – ein Denkrahmen, der wie Leitplanken funktioniert und bestimmt, wie wir die Wirklichkeit und die Funktionsweise von Systemen wahrnehmen. Alles, was in diesen Rahmen passt, nehmen wir wahr. Alles andere ignorieren wir. Erst wenn Anomalien entstehen, wenn die Ersten zu zweifeln beginnen und die Systemlogik infrage stellen, ändert sich etwas. Das heißt, Transformation geht viel tiefer. Damit sie gelingen kann, braucht es eine Resonanzfähigkeit, eine Reflexionsfähigkeit und eine Beziehungsfähigkeit, kurz gesagt eine Kultur des gemeinsamen Gestaltens. Transformation braucht den Dialog. Sie funktioniert nicht, wenn in Diskussionen jeder seine bestehende Meinung durchboxen will. Und sie braucht Mut, dann auch wirklich etwas Neues und anderes zu wagen. Ich glaube, dass wir in Deutschland viele fähige Entscheidungsträger in Politik und Wirtschaft haben, die sich aber so sehr mit Krisenbewältigung beschäftigten, dass sie zukunftsvergessen sind, wie das der Soziologe Harald Welzer ausdrückt. Sie optimieren das Land und ihre Unternehmen zu Tode, statt Zukunft gemeinsam mit anderen zu gestalten.
D&S: Sie sagen, für die Transformation braucht es Imagos. Was verstehen Sie darunter?
Reza Razavi: Die Metamorphose von der Raupe zum Schmetterling ist ein Sinnbild für Transformation. Eine besondere Rolle spielen in diesem Prozess die sogenannten Imagozellen, die die Raupe nach der Verpuppung zu einem völlig neuen Insekt umprogrammieren. Sie werden während der Metamorphose anfangs als Fremdkörper eingestuft und bekämpft, teilweise sogar eliminiert, doch sie kommen wieder. Sie tauschen Informationen aus und bilden Cluster. Am Ende lässt die Raupe die Verwandlung zu. Ich fand diese Metapher sehr schön und gut übertragbar auf Organisationen und die Gesellschaft. Imagos sind Menschen, die mitgestalten wollen und Verantwortung übernehmen. Imagos sind bereit, drei Schritte nach vorne zu machen und zwei wieder zurück, um iterativ vorankommen: Loslassen, zulassen, Rahmenbedingungen und Begegnungsräume schaffen für Zukunftsvisionen, die erst mal eine gewisse Unschärfe haben und auf dem Weg eine Schärfe bekommen.
D&S: Unserem Gefühl nach befinden wir uns in einer wirtschaftlichen Schockstarre. Geschätzt 90 Prozent der Menschen sind bewegungsresistent und nicht transformationsbereit. Vielleicht ist das in unserer DNA so angelegt, vielleicht ist das auch nur eine typisch deutsche oder europäische Verhaltensweise. Wie sehen Sie das?
Reza Razavi: Ich tue mich sehr schwer mit dieser Aussage. Das ist ein jahrhundertealtes Narrativ und es ist ein unglückliches Narrativ. Veränderung gehört zum Leben. Ich bin froh, dass ich nicht mehr der Mensch bin, der ich vor 20 Jahren war, oder die Gedanken habe, die ich damals hatte. Selbst im gefühlten Normalzustand ist immer Dynamik drin. Stabilität braucht Dynamik. Zudem glaube ich, dass in 90 Prozent der Länder sehr viele Menschen sich eine Veränderung wünschen. Schwierig wird es nur, wenn die Veränderung bei einem selbst beginnt.
D&S:„Everybody wants change, but nobody wants to change” – ein starkes Zitat, wie wir finden. Wir beobachten das bei uns selbst. Auch wir wollten schon so manche Veränderung in unserem Leben. Doch als es darum ging, wirklich konsequent zu sein, war unsere Hand auf der Handbremse.
Reza Razavi: Ja, es kommt immer darauf an, wie hoch der Leidensdruck ist. Ich hatte vor einiger Zeit einen Herzinfarkt und bin daraufhin eine große Transformation in Bezug auf Ernährung und Bewegung eingegangen. Das macht nicht immer Spaß, aber ich habe gesehen: Um lebensfähig zu sein, muss ich gewisse Veränderungen annehmen, sonst wird es knapp.
D&S: Heißt das, wir müssen den Leidensdruck erhöhen, um als Führungskraft die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in die Transformation mitzunehmen oder als Politiker die Gesellschaft?
Reza Razavi: Ich glaube, es geht weniger um Druck oder Überzeugungsarbeit, sondern darum, den Menschen ihre jeweilige Identität im neuen System zu erklären. Dieser eventuelle Identitätswechsel ist eher das Problem als eine vermeintliche Veränderungsresistenz. Deswegen müssen auch erste Erfolge schnell sichtbar werden. Vielleicht kann ich mein Verständnis von „Menschen mitnehmen“ anhand eines Beispiels aus meiner BMW-Zeit zeigen. Ich bin damals ja nicht als Besserwisser in die Organisation reingegangen und habe gesagt: „Es ist alles schlecht, es muss sich alles ändern.“ Es war im Gegenteil so, dass viele Kollegen immer wieder von Defiziten und Dysfunktionalitäten im System berichtet haben, zum Beispiel im After-Sales-Prozess mit fehlenden Kundenschnittstellen. Diese Menschen haben von sich aus einen Leidensdruck gespürt und sie wollten etwas verändern. Und weil ein Einzelner nicht die Macht hat, ein System zu ändern, weil das nur mit einer Bewegung funktioniert, haben wir den Connected Culture Club gegründet mit vielen Menschen, die ich Imagos nenne. Dieser Club hatte erst mal sehr viele Zaungäste. Doch als sie sahen, was in und durch diesen Dialog passierte, und ich immer mehr charismatische und prominente Unterstützer gefunden habe, wollten die Zaungäste auch ein Teil der Bewegung sein.
D&S:Es entstand eine Dynamik?
Reza Razavi: Genau. Für mich war es total spannend, dass ich plötzlich Anrufe von Lufthansa bekam, von ZF und von anderen Firmen, die gefragt haben, was wir da eigentlich machen in unserem Club. Klar ist, dass Transformation immer träge ist und man leider Zeit und Geduld braucht. Die Welt wird beispielsweise erst in 100 Jahren wissen, ob das, was wir heute angehen, eine Erfolgsgeschichte war. Klar ist auch, dass Transformation nicht gelingt, wenn man nicht auch auf der Ebene der Entscheidungsträger Leute gewinnt. Doch um wirklich langfristig gestalterisch transformativ unterwegs zu sein, ist der einzige Weg, mit einer Bewegung zu beginnen und zu versuchen, Dynamik zu erzeugen. Am Ende meines Buches steht: Aus kleinen Wellen werden große Wellen, die vielleicht die Kraft eines Tsunamis entwickeln.
D&S: Herr Razavi, zum Abschluss möchten wir Ihnen die Chance geben, dem Themenreise-Netzwerk und uns etwas mit auf die Reise durch 2023 zu geben. Was wäre das?
Reza Razavi: Ich wünsche mir, dass wir Mut zeigen, um Unschärfen zuzulassen und gemeinsam Zukunft zu gestalten, ohne vom Heute auszugehen. Und dass wir immer mehr Leute für unseren Weg und unsere Bewegung finden. Das funktioniert aus meiner Sicht nicht nur anhand rationaler Argumente, sondern vor allem über die emotionale Ebene. Ich habe das bei mir selbst erlebt. Ich habe die neue Protestbewegung im Iran 50 Tage lang beobachtet und mich nicht positioniert, weil ich an meinen Vater gedacht habe, der dort allein ist und den ich weiter besuchen können will. Und dann sah ich, wie Coldplay bei einem Konzert in Buenos Aires dieses wunderschöne Freiheitslied Baraye mit einer iranischen Exilschauspielerin performt hat, ein Song, den ein 18-jähriger Iraner anhand von Twitter-Texten geschrieben hatte. Ich habe das gesehen und ein ganzes Wochenende lang nur geheult. Dann habe ich mir gesagt: Du musst Haltung zeigen, du musst etwas tun. Dieser Auftritt hat mich aus der puren Rationalität geholt und mich zum Teil der Bewegung gemacht.
D&S: Ohne Emotionalität geht es nicht?
Reza Razavi: Genau. Ich sage nicht, dass Rationalität schlecht ist. Aber Transformation braucht auch Emotionalität. Beim Hype-Thema Purpose geht es nicht darum, dass die Menschen plötzlich glücklich werden, sondern darum, ihnen ein Motiv zu geben, sich in eine gewisse Richtung verändern und bewegen zu wollen.