Blogbeitrag 08 / 05 / 2019
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Dachbegrünung zieht Menschen auf die Dächer

Grüne Dächer

© Ulianna – gettyimages.com

Im Netz begegnet einem ja so einiges, und auch auf das kann man stoßen: Mitten in der belgischen Hafenstadt Antwerpen steht offenbar ein Haus, von dem herunter jeden Morgen der Hahn kräht. Auf dem Dach: eine für Städte dieser Größe eher ungewöhnliche Konstruktion – ein pittoresker Bauernhof  mit einem wildromantischem Cottage-Garten.

So vermeintlich fehl am Platz die Anlage ist, steht sie nichtsdestoweniger für einen Trend: Blickt man nämlich aus der Vogelperspektive auf Metropolen und urbane Zentren, dann bemerkt man dort auch abseits von großen Parks immer öfter üppiges Grün. Es scheint fast, dass über Dächer in der Stadt reden zu wollen heute bedeutet, über Pflanzen und Gärten sprechen zu müssen. Dabei fällt auf: Grüne Dächer werden immer häufiger so angelegt, dass sie nicht mehr nur als passive Ausgleichsflächen fungieren, sondern dass Menschen sie aktiv nutzen können. 

Mit Valentin Brenner, Architekt und Experte für nachhaltige Gebäude vom Architekturbüro H. Brenner und langjähriger Leiter des Drees & Sommer-Expertenteams Cradle to Cradle ® , haben wir uns über Gründächer in der Stadt unterhalten.

Herr Brenner, woher kommt denn der gegenwärtige Boom der grünen Dächer? 

Valentin Brenner: Dass man sich überlegt, auf dem Dach sinnvolle Dinge zu tun, ist nicht neu. Zumal dann, wenn der Platz knapp ist – wie in der Stadt. Heute dienen Dächer von großen Gebäuden meistens dazu, die Versorgung mit elementaren Ressourcen sicherzustellen. So finden sich darauf gebäudetechnische Anlagen wie Klimaaggregate oder Photovoltaikmodule. Oder auch voluminöse Wasserspeicher, wie sie beispielsweise für New York typisch sind. 

Für die Nutzer oder die Bewohner der Gebäude bleibt dafür aber eher weniger Platz? 

Das kommt darauf an: Natürlich bevölkern die Menschen auch heute schon die Dächer – sofern Zugänge und entsprechende Einrichtungen vorhanden sind. In urbanen Gebieten mit hoher Verdichtung lechzt man geradezu danach, auf das Dach zu kommen. Denken Sie an Kleinspielfelder für den Sport, Pausenbereiche für die Mittagsmahlzeit oder angesagte Bars für den abendlichen Sundowner. Das gibt es alles schon dort oben – nicht überall, aber es gibt offenbar ein starkes Bedürfnis danach. 

Sprechen wir über Gründächer im engeren Sinne. Angenommen, der Bauherr will so etwas auf seinem Firmengebäude realisieren. Kann er sich einfach für seine Lieblingspflanzen entscheiden und loslegen? 

So leicht ist das nicht. Grundsätzlich gilt: Grüne oder begrünte Dächer sind zunächst eine weitere Variante, wie sich Gebäude bis in den letzten Winkel sinnvoll nutzen lassen. In manchen Kommunen bzw. Bundesländern sind sie für Neubauvorhaben inzwischen sogar in den Bauordnungen vorgeschrieben. Bauherren müssen daneben natürlich zahlreiche objektspezifische Faktoren berücksichtigen, etwa die Statik des Gebäudes. Bei der Gestaltung haben sie die Wahl: Das Spektrum reicht von der extensiven Dachbegrünung mit widerstandsfähigen Pflanzen auf wenigen Zentimetern Substrat über intensivbegrünte Dächer, die sich mit Wegen, Sitzplätzen und Solar-Pergolas in regelrechte Parks verwandeln lassen, bis zu landwirtschaftlich genutzten Flächen.

 

Landwirtschaft in der Stadt kennt man ja spätestens seit der Urban-Gardening-Bewegung. Aber auf dem Dach? Das hört sich ein wenig nach einem Rückzugsort für den Ökohipster an!  

Im Gegenteil, das Thema verlässt gerade sein Nischendasein. Immer mehr Experten sind sich sicher, dass in diesem Bereich die Zukunft lieg. Der Grund ist, dass damit die Lösung eines weiteren städtischen Problems in greifbare Nähe rückt: die Versorgung der Bewohner mit nachhaltig erzeugten Nahrungsmitteln, also an Ort und Stelle und womöglich auch noch innerhalb eines Nährstoffkreislaufs angebaute Lebensmittel. Als Stichworte fallen hier neben Urban Gardening und Urban Farming derzeit häufig Hydro- und Aquaponik. 

Aquaponik – da kommen Fische mit ins Spiel, oder? Das heißt, es gibt bald frischen Fisch vom Dach? 

Genau. Aquaponik basiert auf einem symbiotischen Kreislauf, der sich gut auf begrenztem Raum umsetzen lässt: Fische düngen mit ihren Ausscheidungen Gemüsepflanzen, diese filtern über ihr Substrat das Wasser, das wieder in den Fischtank zurückfließt. Als Nahrungsmittel stehen Fisch und Gemüse zur Verfügung. Und es gibt bereits erste Versuche, die beim Betrieb eines Gebäudes ohnehin anfallende Abwärme dazu zu nutzen, solche Kreisläufe anzutreiben. 

Es scheint, dass bepflanzte Dächer bei allen Unterschieden in Aufbau und Funktion eines gemeinsam haben: Sie sind Kompensationsflächen in vielerlei Hinsicht. Würden Sie das unterschreiben? 

Ganz klar ja. Am deutlichsten wird das in ihrer ökologischen Funktion: Einen Ausgleich schaffen sie dort, wo sich der Stadtraum durch die in Stein, Stahl, Asphalt und Beton gespeicherte Sonnenenergie lokal stark aufheizt. Begrünte Dächer verringern den Hitzeinsel-Effekt, der Städte gegenüber ihrem Umland meist nachteilig auszeichnet. Sie senken die Temperatur in ihrer Umgebung – und wirken durch die isolierenden Eigenschaften der Pflanzschicht und die entstehende Verdunstungskälte überdies ausgleichend auf die Temperaturen in den darunterliegenden Räumen. 

Auch bei sogenannten Starkregenereignissen sollen Gründächer ausgleichend wirken. Können Sie das erläutern? 

In Deutschland sind rund 45 Prozent der Siedlungs- und Verkehrsfläche versiegelt.Vor allem bei sehr starkem Regen kann das schnell zum Problem werden, weil große Wassermengen innerhalb kurzer Zeit in die Kanalisation gelangen, die für solche Volumina aber meist nicht ausgelegt ist. Grüne Dächer können dann zumindest teilweise die Funktion natürlicher Böden übernehmen und das Regenwasser temporär zurückhalten, das sonst schnell Gullydeckel in Flöße verwandelt. Damit entlasten sie die Kanalisation, was sich für den Eigentümer in verminderten Abwassergebühren bemerkbar machen kann. Und für Passanten daran, dass sie trockenen Fußes durch die Stadt kommen. 

Womit wir bei den Kosten wären. Mit dem Grün lässt sich also rechnen? 

Die Mehrausgaben, die dem Bauherrn durch die aufwendigere Planung und Konstruktion sowie die regelmäßige Wartung entstehen, machen grüne Dächer durch eine Reihe von Vorteilen wett. Dazu zählen neben der genannten Entlastung bei kommunalen Gebühren geringere Aufwendungen für die Klimatisierung und Beheizung des obersten Geschosses. Eine allgemein gesteigerte Identifikation der Mitarbeiter oder der Bewohner mit ihrem „grünen“ Gebäude, nicht zuletzt durch das buchstäbliche Wohlfühlklima, kommt hinzu. Wenn sich dies dann positiv auf die Produktivität und Gesundheit niederschlägt, ist die Wirtschaftlichkeit schnell gesichert. Und im besten Fall entsteht eine optimierte Marktpräsenz durch die Image-Aufwertung der Immobilie. 

Man gewinnt den Eindruck, dass neben den genannten Aspekten grüne Dächer – insbesondere diejenigen, die sich aktiv nutzen lassen – auch eine soziale Kompensation erfüllen. Wo unten auf der Straße das Leben stetig einen Zahn zulegt, lässt sich oben zwischen Buchskugel und Lavendelbusch die Entschleunigung zelebrieren. Und wo in Workspaces und Smart Homes im Zuge der Digitalisierung dauernd die Rede ist von der Dematerialisierung, geht es oben beim Pflanzen und Ernten handfest zur Sache. Gehört die Rübe doch zunächst ordentlich freigeruckelt, bevor sie auf dem Teller landet. Dachgärten sprechen außerdem alle Sinne an: Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, Fühlen. Ziemlich augmented, diese Reality! Selbst unsere Smartphones kommen da (noch) nicht mit. 

Diese aktive Kompensation (ökologisch, wirtschaftlich, sozial) weist vielleicht auf den eigentlichen Grund für die Konjunktur von Gründächern hin: Sie sind Orte, an denen Menschen gemeinsam Zukunftsentwürfe ausprobieren können, an denen positive Utopien auf kreative Ideen und technische Innovationen treffen. Und es könnte doch sein, dass sich das alles zu einem Substrat verbindet, in dem das Pflänzchen Fortschritt gerne Wurzeln schlägt.